Im Porträt Wie Bettina Flitner den Suizid ihrer Schwester aufgearbeitet hat

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Bettina Flitner
Will mit Bildern Geschichten erzählen: Bettina Flitner Bild: Bettina Flitner

Ihre Bilder erzählen Geschichten und gehen nah: Bettina Flitner hat als vielfach ausgezeichnete Fotografin im Mauerstreifen fotografiert, im Bordell oder bei gefährlichen Reportagen im Dschungel. In ihrem jüngsten Buch erzählt sie ganz persönlich von ihrer Schwester, die sich mit 57 Jahren das Leben nahm.

Bettina Flitner und ihre Schwester wuchsen in den 1970er-Jahren auf. Sie waren eng verbunden: Ihre Eltern lebten ihre Beziehung sehr offen aus, und die Familie zog häufig um – bis nach New York. "Ich kam aus Hannover und dann landeten wir in Manhattan", erinnert sich Flitner an ein spannendes, aber auch anstrengendes Auslandsjahr ihrer Kindheit.

Ein Suizid, der alle überraschte

In einem Moment unsicher und zaghaft, im anderen übermütig, frech und komisch. So beschreibt Bettina Flitner ihre Schwester rückblickend. Als sie noch Kinder waren, hatte Flitner immer zu ihrer Schwester aufgeblickt – der großen, tonangebenden Schwester. Im Erwachsenenalter aber änderte sich das: "Da hat sich das verflüchtigt, diese Stärke", erinnert sich Flitner.

Die Schwester, deren Name nur selten in dem Buch genannt wird, wurde als Erwachsene verzagter, ihr Selbstbewusstsein schwand. Schon einmal hatte sie versucht, sich umzubringen. Als sie ihren Job verlor, brach sie zusammen. Trotzdem kam ihr Suizid überraschend für Bettina Flitner: "Meine Schwester war Weltmeisterin im Verstecken. Daher hat sich das nicht angedeutet."

Mit dem Schreiben habe ich sie Stück für Stück ins Leben zurückgeholt.

Bettina Flitner über den Prozess des Schreibens.
Buchcover "Meine Schwester" von Bettina Flitner
"Uns war beiden klar, dass wir auseinander gehen werden, dass sich unsere Wege trennen", sagt Bettina Flitner über den Moment, den das Coverfoto ihres Buches zeigt. Bild: Kiepenheuer&Witsch

"Wenn sich jemand umbringt, ist das erst einmal ein unfassbarer Schlag. Eine Person, die gerade noch da war, existiert in der nächsten Sekunde nicht mehr. Das ist so eine existenzielle Situation, dass da nur der Tod zählt", sagt Bettina Flitner, wenn sie sich an den Moment erinnert, als sie vom Suizid ihrer Schwester erfuhr. Heute, rund fünf Jahre später, hat sie sich entschieden, davon zu erzählen: "Mit dem Schreiben habe ich sie Stück für Stück ins Leben zurückgeholt. Mich daran erinnert, was wir zusammen erlebt haben. Plötzlich wurde sie wieder lebendig für mich. Und deswegen war es für mich gar kein schwerer Akt, sondern etwas, das mir das immer leichter gemacht hat."

Meine Schwester ist sozusagen in die Fußstapfen meiner Mutter getreten. Und diese Wiederholung ist natürlich sehr schockierend.

Bettina Flitner über den Suizid ihrer Mutter

Bettina Flitners Eltern stammten aus sehr unterschiedlichen Familien: Da waren die lebenslustigen Schlesier ihrer Familie mütterlicherseits, bei denen es Sherry, deftiges Essen und einen Farbfernseher gab. Und die Anthroposophen väterlicherseits, bei denen es Quark, Schwarzbrot und Gemüsebrühe gab und einen Großvater, der bekannter Reform-Pädagoge war. "Zwischen diesen beiden Polen, das war auch interessant als Kind", schmunzelt Bettina Flitner.

Es gab Schabernack mit der Schwester und viele helle, bunte Momente, wenn der Vater Witze machte: "Ich musste beim Schreiben unglaublich lachen, weil ich mich an all diese seltsamen und komischen Sachen erinnert habe", erzählt sie. Doch die Mutter kämpfte mit Depressionen und nahm sich mit 47 Jahren das Leben. "Meine Schwester ist sozusagen in die Fußstapfen meiner Mutter getreten. Und diese Wiederholung ist natürlich sehr schockierend und erst einmal gar nicht zu verkraften."

Ihre Bilder sollen erzählen

Schon als Jugendliche fing Bettina Flitner mit dem Fotografieren an. Später machte sie beim Westdeutschen Rundfunk eine Ausbildung zur Cutterin und absolvierte danach ein Regie-Studium. Sie sagt: "Ich habe mich für Bilder interessiert und fürs Erzählen." Doch schon während des Studiums merkte sie, dass die Filmemacherei nicht das Richtige für sie war.

1990 startete Flitner als Fotografin durch: Sie reiste an die ehemalige deutsche Grenze und porträtierte Menschen, die dort lebten. Ihre Fotoreportage "Geschichten aus dem Niemandsland" machte sie schlagartig bekannt. "Das war so unglaublich, diese Zeit", erinnert sie sich an die Wendejahre. Später fotografierte sie für den "Stern" in einem Groß-Bordell, porträtierte junge Rechtsradikale und war viel im Ausland in Ländern wie Ruanda oder Myanmar unterwegs. In Papua-Neuguinea sprach sie mit Tätern und Opfern von "Hexen-Verbrennungen". Zuletzt ist von Bettina Flitner der Bildband "Väter und Töchter" erschienen – Porträts über besondere Beziehungen besonderer Persönlichkeiten.

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 14. September 2022, 18:05 Uhr

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