Die Morgenandacht Das Reh

Wibke Winkler
Wibke Winkler

Die Morgenandacht Das Reh

Pastorin Wibke Winkler freut sich jetzt im Frühling an der wiedererwachten Natur: an Rehen im Unterholz, Amseln und Spatzen vor ihrem Küchenfenster und einem Adler hoch oben in den Lüften. Welche Rolle spielen Tiere eigentlich in den Geschichten der Bibel und der religiösen Tradition? In den Morgenandachten geht sie eine Woche lang auf tierische Spurensuche. Heute: Das Reh.

Bild: Bremische Evangelische Kirche

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Es raschelt im Unterholz. Zwei tiefbraune Augen schauen mich durch’s Gebüsch an. Erstaunt, dass ich da bin wohl, denn blitzschnell und mit einem Rascheln verschwindet das Augenpaar wieder hinter den Zweigen und in einiger Entfernung sehe ich ein Reh zwischen den Bäumen davonhüpfen. Ein flüchtiger Moment nur – denn Rehe sind scheue Feld- und Waldbewohnerinnen. „Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Rehen des Feldes: Stört nicht die Liebe auf, bevor es ihr selber gefällt!“, sagt ein altes hebräisches Liebesgedicht, das Hohelied der Liebe (Hld 2,7; 3,5). Weise Worte! Denn die Liebe ist scheu wie ein Reh. Ein Telefonklingeln oder ein Nachrichtenton im falschen Moment – oder auch ein flüchtiger Blick auf’s Smartphone – und ein zarter Augenblick, aus dem mehr hätte werden können, entfaltet sich nicht. Oder die Verliebten selbst halten die Spannung nicht aus, in der sie sich gerade näherkommen… und eine:r von beiden sagt auf einmal etwas völlig Banales: "Wie findest Du eigentlich?"…

Schon ist der Moment Vergangenheit und wo eben noch erwartungsvolle Ruhe war, ein Knistern vielleicht sogar, kehrt alltägliches Gepiepe und Gequatsche zurück. Es verdrängt die Liebe. Die Liebe braucht einen Schutzraum. Zeiten oder Orte, wo niemand sie aufstört. Junge Liebe braucht das – von ihr kennt man es – und älter gewordene Liebe braucht es auch. Scheu wie ein Reh ist die Liebe. Aber warum eigentlich? Wäre es nicht nützlich, sie wäre ein bisschen robuster? Nicht so leicht ins Bockshorn zu jagen?

Nun, nützlich wäre es vielleicht, aber kein bisschen klug. Denn wer liebt, der macht sich verletzlich. Schon allein darum macht es Sinn, dass man sich der Liebe nur behutsam nähern kann. Und es liegt in ihrem Wesen: Die Liebe ruht nur in sich selbst und die Liebenden ineinander. So soll es sein und bleiben dürfen. Ich glaube, darin liegt der Funken Göttlichkeit, den Menschen in sich tragen: dass wir lieben können – jenseits von Gedanken der Nützlichkeit. In aller Zartheit und Behutsamkeit. Denn die Liebe ist scheu wie ein Reh.

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  • Wibke Winkler

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