Die Morgenandacht Der Mensch sieht, was vor Augen ist

Wibke Winkler
Wibke Winkler

Die Morgenandacht Der Mensch sieht, was vor Augen ist

Eine Nachbarschaftsgeschichte bringt Pastorin Wibke Winkler zu einer wichtigen Erkenntnis: Der Mensch sieht was vor Augen ist – was aber im Herzen, oder hinter den Mauern von Wohnhäusern los ist – ist für die meisten unsichtbar. Grund für eine neue Demut?

Bild: Bremische Evangelische Kirche

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Ein freistehendes Einfamilienhaus. Fast jeden Tag fahre ich daran vorbei. Roter Backstein. Gute Wohngegend. Ein Vorgarten. Die Einfahrt zur Garage. Früher hingen etwas ältlich wirkende Gardinen in den Fenstern. Der Garten wuchs und rankte wild am Haus empor. Als würden den Leuten das Haus und seine Pflege über den Kopf wachsen. Irgendwann stand dann der Umzugswagen vor der Tür und die Schilder einer Immobilienfirma zogen ein: "Zu verkaufen". Hui, dachte ich, bestimmt kein Schnäppchen! Und wahrscheinlich muss man zusätzlich zum Kaufpreis auch noch eine Kernsanierung stemmen.

Die neuen Eigentümer haben genau das getan. In der Mulde vor dem Haus landete so einiges. Abgerissene Tapete. Ausgebrochene Steine. Abgeschlagene Fliesen mit 70er-Jahre-Dekor. Ockerbraun. Im selben Farbton die alte Badewanne. Ich habe zugesehen, wie die Baustelle das Haus verwandelt hat. Ein Durchbruch. Ein neues Dach. Mit Photovoltaik. Die dunklen Holzsprossenfenster kamen raus, helle rein. Es kamen Handwerker:innen der unterschiedlichen Gewerke. Zum Fliesen verlegen. Zum Malern und zuletzt – es war schon Herbst – um den Garten neu anzulegen. Wow, sogar dafür ist noch das nötige Kleingeld da! Statt dunkler Kirschlorbeerhecke nun Buche – dahinter sind Rosen zu erkennen und Storchenschnäbel. Im Frühjahr wird sich sicher noch mehr zeigen.

Schließlich kommt wieder ein Umzugswagen. Eine Familie zieht ein. Jedenfalls Leute mit Kinderfahrrädern. Teuren Kinderfahrrädern, versteht sich. Weil Herbst ist – draußen dunkel, drinnen hell – kann ich hineinsehen ins Haus. Eine Einbauküche mit Kochinsel erspähe ich. Hippe Kunst in dicken Bilderrahmen, eine Designerlampe. Wow, hier wohnen echt Leute, die's geschafft haben, denke ich. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Und ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich weiß: Geld ist nicht alles. Und dann steht da aber in der Einfahrt dieser neue Multivan und der alleine kostet ja schon ein halbes Vermögen… An einem sonnigen Nachmittag im Mai sehe ich endlich einmal Menschen zu dem Haus. Zwei Kinder schieben ihre Fahrräder aus der Einfahrt und hinter ihnen her kommt eine Frau mit Sonnenhut. Ein toller Hut! Die Frau hat einfach Style! Aber je näher ich komme, desto dunkler wird meine Ahnung… Sie trägt einen Sonnenhut, ja, aber sie hat weder Wimpern noch Augenbrauen. Ich fahre vorbei. Wie fast jeden Tag.

Und am nächsten Tag wieder. Aber ich denke nicht mehr: Hier wohnen Leute, die’s echt geschafft haben. Sondern ich schicke einen stummen Gruß durch die Buchenhecke und ein Gebet gen Himmel: Ach, Gott! Du bist doch hoffentlich auch bei ihnen eingezogen? Wohnst du da? Bitte. In ihrem Style und in ihrer Not.
Und hoffentlich leben dort Leute, die es schaffen!

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