Die regionale Reportage Worpswede: Das geheime Gedicht auf den "Moorexpress"-Schwellen

Autor/Autorin

  • Gerhard Snitjer
Schienen des Moorexpresses in Worpswede.
Auf insgesamt zwölf Schwellen des "Moorexpress" hat die Lyrikerin Felicitas Frischmuth ihr Gedicht eingemeißelt. Bild: Radio Bremen | Gerhard Snitjer

Kein Schild führte zu dem Kunstwerk, das 1978 am Ortsrand von Worpswede entstand. In einem der dortigen "Künstlerhäuser" wohnte damals die Lyrikerin Felicitas Frischmuth (1930 - 2009) – und hat heimlich ein Werk für die Ewigkeit hinterlassen.

Schienen des Moorexpresses in Worpswede.

Lyrik auf den Bahnschwellen des Moorexpress

Die Lyrikerin Felicitas Frischmuth hat ganz heimlich ein Kunstwerk für die Ewigkeit in Worpswede hinterlassen.

Bild: Radio Bremen | Gerhard Snitjer

Am Ortsrand von Worpswede stehen die "Künstlerhäuser", die der Maler und Grafiker Martin Kausche Anfang der siebziger Jahre gegründet hat. Hier können handverlesene Stipendiaten eine zeitlang wohnen, schreiben, dichten, malen oder musizieren. Direkt neben daneben verlaufen die Gleise des "Moorexpresses", der Museumsbahn von Bremen nach Stade. Kein Zaun, sondern nur ein Graben und wenige Meter trennen die Häuser von den Schienen, deren alte, hölzerne Bahnschwellen Untergrund eines geheimnisvollen Kunstwerks wurden. Das blieb auch dem Ehepaar Philine und Bhima Griem nicht verborgen, die seit seit einigen Jahren die künstlerische Leitung der Künstlerhäuser haben.

In einige der alten dicken dicken Holzbohlen ist ein Text eingekerbt – in großen, eckigen Buchstaben, je ein oder zwei Wörter pro Schwelle.

Lauf
Spring doch
Spring
Geh
Bleib
Komm

Gedicht von Felicitas Frischmuth, auf den Schwellen des "Moorexpresses"

Wer mochte sich da verewigt haben? Ein früherer Nachbar, der nicht mehr in Worpswede lebt, erinnert sich: Als Achtjähriger hat er einer Künstlerin bei ihrer Arbeit an den hölzernen Schwellen zugesehen. Felicitas Frischmuth war es, die mit ihren Werkzeugen die Bahnschwellen beschriftete – was selbstverständlich streng verboten war.

Sie begann einige Tage vor ihrer Abreise in die Bahnschwellen hinter dem Haus zu meißeln. Sie wirkte bedrückt, so schrieb der Nachbar Matthias Bunger seine Erinnerungen an die mehrtägige Aktion einmal auf.

Porträt der Schriftstellerin Felicitas Frischmuth
Die Lyrikerin Felicitas Frischmuth lebte von 1978 bis 1979 in den Künstlerhäusern in Worpswede. Bild: Wikipedia | EPei

Doch was die Künstlerin da aufschrieb, macht keinen Sinn für den jungen Matthias: "Ich verstand nicht und war enttäuscht von dem, was sie da in bald einer Woche tat. Sie dagegen wirkte gelöst, und fuhr."

Felicitas Frischmuth hatte ein Werk hinterlassen, das verschwiegen, wie ein kleines Geheimnis, zwischen den Schienen lag. Kein Werkverzeichnis, kein Hinweisschild, keine Texttafel wies darauf hin. Ein bisschen anarchisch: Um überhaupt darauf zu stoßen, musste man ebenso wie die Künstlerin etwas Verbotenes tun. Nämlich die Bahnstrecke betreten und ein Stück darauf laufen.

Schienen des Moorexpresses in Worpswede.
Wenige Meter hinter den flachen Künstlerhäusern verlaufen die Gleise der Museumsbahn "Moorexpress". Bild: Radio Bremen | Gerhard Snitjer

Um das Gedicht lesen zu können, muss man sich von einer Schwelle zur nächsten bewegen. (...) Die Lesbarkeit ist nur zu erlangen, wenn man eben auch in Bewegung kommt.

Philine Griem, künstlerische Leitung der Künstlerhäuser in Worpswede

Felicitas Frischmuth hat auf den Bahnschienen am Ende ihres Stipendiums sicherlich kein lyrisches Hinkepinke-Hüpfspiel im Sinn gehabt. Philine Griem sieht eine metaphorische Bedeutung: "Trau dich! Wag was! (...) Veränderungsprozesse haben ja immer beides. Man braucht Mut, aber gleichzeitig muss man auch abwägen. Diese Ambivalenz, finde ich, bringt sie schön in diesen paar Zeilen zum Ausdruck."

Schienen des Moorexpresses in Worpswede.
Nun liegt Freimuths "Gedicht" auf einer Grasfläche vor der "Großen Kunstschau" mitten in Worpswede. Bild: Radio Bremen | Gerhard Snitjer

Doch 2021 geriet das versteckte Kunstwerk plötzlich in Gefahr: Die Holzschwellen der Moorexpress-Strecke wurden gegen Beton ausgetauscht. Die Künstlerhaus-Leitung schaffte es, zumindest diese zwölf Schwellen zu retten. Gar nicht so einfach, denn die imprägnierten Bahnschwellen sind hochgiftig und werden nicht einfach so herausgerückt.

Aber nun liegen sie dekorativ aufgereiht auf einer Grasfläche vor der "Großen Kunstschau" mitten in Worpswede. Das freut Philine Griem sehr. Denn es rücke die Künstlerhäuser ins Bewusstsein der Besucherinnen und Besucher. Das wiederum bedeute für sie, dass der Ort nicht nur dem Tourismus dient, sondern künstlerisch lebt. "Dass es eben eigentlich auch ein Künstlerdorf ist. Sprich: Dass hier Kunst gemacht wird und Kunst entstehen kann", beschreibt Philine Griem.

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Vormittag, 16. August 2021, 10:40 Uhr

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