Im Porträt Warum viele Ostdeutsche so lustvoll schimpfen

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  • Maria Hecht
Autorin Juliane Stückrad
Hat in Südamerika festgestellt, dass sie lieber ihre Mitmenschen in Ostdeutschland erforschen will: Juliane Stückrad. Bild: Susanne Schleyer

Woher kommt die Lust vieler Ostdeutscher am Schimpfen? Auf der Suche nach Antworten forscht die selbst aus Thüringen stammende Volkskundlerin Juliane Stückrad über 20 Jahre in der ostdeutschen Provinz. Ihr Ergebnis: Das Klagebedürfnis der Ostdeutschen unterscheidet sich vom bloßen Jammern. Beim ostdeutschen Schimpfen schwingen immer noch die Erfahrungen des Lebens in der DDR-Diktatur mit.

Autorin Juliane Stückrad

Gesprächszeit "Das Problem ist die Problematisierung des Ostens" – Juliane Stückrad

Woher kommt die Lust vieler Ostdeutscher am Schimpfen? Juliane Stückrad hat dazu geforscht. Sie sagt, die Erfahrungen aus der DDR-Diktatur schwingen immer noch mit.

Bild: Susanne Schleyer

Juliane Stückrad wird 1975 in Eisenach, Thüringen geboren. Zu Mauerfall-Zeiten ist sie ein Teenager. Sie wohnt nah an der Grenze und erlebt mit, wie die Aufhebung der innerdeutschen Teilung gefeiert wird: "Diese Dauereuphorie – das ist ein Gefühl, was ich nie wieder vergesse." Sie selbst zählt zu den Wende-Gewinnerinnen. Sie nutzt die Chancen, die sich ihr nun bieten: Stückrad studiert Ethnologie und Kunstgeschichte in Leipzig, reist viel und kommt ihrem Traum, in Südamerika über indigene Gesellschaften zu forschen, immer näher.

Diese Zerrissenheit, diese Verlusterfahrungen – das ist normaler Alltag.

Juliane Stückrad über ostdeutsche Biografien

Um ihre Reisen zu finanzieren, arbeitet sie bei archäologischen Ausgrabungen in Südbrandenburg mit. Dort begegnet sie Menschen, die durch den Mauerfall vor allem Verlusterfahrungen gemacht haben, die das Leben von zigtausenden Familien nachhaltig beeinflussen. Und darüber beklagen sich diese Menschen, die sie in Südbrandenburg trifft. Später, tausende Kilometer entfernt, in den Anden wandernd, wird der Ethnologin bewusst, dass ihre ostdeutsche Heimat ihr eigentliches Forschungsthema ist und nicht Südamerika.

Plötzlich fremd in der eigenen Heimat

Juliane Stückrad zieht nach Südbrandenburg, in den Elbe-Elster-Kreis. Sie heiratet, bekommt Kinder, aber emotional kommt sie hier nicht richtig an. Sie findet kaum Gleichgesinnte in ihrem neuen Umfeld und leidet unter der "strukturellen Ereignislosigkeit", die die Region für sie prägt: "Dass eine so derartige Fremderfahrung im eigenen Land möglich ist, das war für mich persönlich ganz neu."

Obwohl Juliane Stückrad auch aus der DDR stammt und nur wenige hundert Kilometer entfernt aufgewachsen ist, spürt sie eine ungeheure Fremdheit in Brandenburg, die sie sich jedoch wissenschaftlich zu Nutze macht. Fortan betreibt sie als Ethnologin und Volkskundlerin vor der eigenen Haustür Feldforschung: "Diese Ethnographie hatte auch therapeutische Wirkung; dass ich auf einmal Dinge entdecken konnte, die mich vorher ein bisschen geärgert oder befremdet haben, die waren auf einmal interessant und Datenmaterial."

Schimpfen, um andere "abzuchecken"

Stückrad widmet sich dem Unmut und dem Schimpfen vieler Ostdeutschen, weshalb diese immer wieder als "Mecker- oder Jammerossis" verspottet werden. Sie studiert Plakate und Autoaufkleber, besucht Demonstrationen, Treffen der Arbeitslosenhilfe und Gemeindefeste. Sie diskutiert mit Dorfbewohnern an der Supermarktkasse und am Kneipentresen. Ihre Erkenntnisse über eine ganz spezielle Kultur des Unmuts hat sie im Buch "Die Unmutigen, die Mutigen" zusammengefasst.

In der Diktatur sind Worte verbindlich. Sie können Folgen haben.

Juliane Stückrad über das Schimpfen in der DDR

Hier arbeitet sie heraus, dass Schimpfen in der DDR-Diktatur bereits eine besondere Funktion hatte. Nämlich die des gegenseitigen "sich Abcheckens", um zu gucken, wie der andere zum DDR-System steht. Meckert er mit oder verhält er sich still, vielleicht angepasst? Unmuts-Worte geben zu DDR-Zeiten Orientierung, können aber auch gefährlich sein und echte Konsequenzen haben: "In der Diktatur sind Worte verbindlich. Sie können Folgen haben."

Nach der Wende werden Worte wertlos

Mit dem Mauerfall kommt die freie Meinungsäußerung. Doch viele Ostdeutsche machen – so Stückrad – die erschütternde Erfahrung, dass ihre Meinung, ihre Worte zwar gesagt werden dürfen, aber keine Bedeutung mehr haben. Sie werden abgetan und teils lächerlich gemacht. Heute beobachtet die Ethnologin, dass viele Menschen das Schimpfen populistischen Gruppierungen und Parteien wie Pegida und der AFD überlassen haben. Der Unmut hat nun eigene "Wortführer" gefunden, der Osten lässt Schimpfen.

Die Ostdeutschen wissen, was wirklich damit verbunden ist, wenn wir von Umbrüchen reden. Dass das sehr anstrengend ist!

Juliane Stückrad über die Lebenserfahrungen von Ostdeutschen

Den Osten deshalb abzuschreiben lehnt die Volkskundlerin aber ab. Denn auch hier gibt es Menschen, die nicht mehr nur meckern, sondern machen und das Leben in den Kleinstädten und Provinzen erhalten und gestalten. Zudem haben Ostdeutsche dank ihrer Biografien und der Brüche auch einen Erfahrungsvorteil, der es für Juliane Stückrad nicht länger rechtfertigt, sie immer nur als Abweichung von der Norm zu betrachten: "Diese Umbruchserfahrungen sind wirklich ein großer Schatz; es wird immer gesagt, die sind traumatisiert, die Leute.(...) Vielleicht sind sie aber einfach erfahrener, was gesellschaftlichen Wandel angeht. Die Ostdeutschen wissen, was wirklich damit verbunden ist, wenn wir von Umbrüchen reden. Dass das sehr anstrengend ist, dass das bis in die Familien, bis in die Psyche reingeht."

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 9. November 2022, 18:05 Uhr

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