Die Morgenandacht Die Sache mit dem Grabscher

Wolkenhimmel, dahinter Lichtstrahl

Die Morgenandacht Die Sache mit dem Grabscher

Ein verehrter Theologe stürzt vom moralischen Sockel und wird zum übergriffigen Kerl. Pastorin Jeannette Querfurth begrüßt das Projekt "Kein Platz für Gewalt!" der Bremischen Evangelischen Kirche mit einer bitteren Erinnerung. Die Zeit des Schweigens ist vorbei.

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Ein verehrter Theologe stürzt vom moralischen Sockel und wird zum übergriffigen Kerl. Pastorin Jeannette Querfurth begrüßt das Projekt "Kein Platz für Gewalt!" der Bremischen Evangelischen Kirche mit einer bitteren Erinnerung. Die Zeit des Schweigens ist vorbei.

Ein verehrter theologischer Lehrer ist an diesem Tag vom Sockel gefallen. Sehr tief gefallen.

"Vielen Dank für den schönen Abend!" Das hatte er mir nach der Veranstaltung in sein neues Buch geschrieben, aus dem er an diesem Abend gelesen hatte. Angeekelt habe ich es ein paar Stunden später mit der frischen Widmung in den Müll geworfen.
Denn am Ende des Abends war er nur ein mieser, übergriffiger Kerl.

Es ist über 20 Jahre her. Ich hatte einen der bekanntesten deutschen Theologen zu einer Lesung nach Bremen eingeladen. Er war damals schon über 80. Seine Frau begleitete ihn.

Nach dem Vortragsabend signierte er noch eine Weile Bücher. Anschließend gingen wir zum Essen in ein schönes Restaurant. Ein Bremer Freund des Theologen begleitete uns.

Der Theologe saß an der Kopfseite des Tisches, ich rechts neben ihm. Seine Frau mir gegenüber. So plauderten wir und aßen in angenehmer Atmosphäre.

Bis sich plötzlich unter dem Tisch eine Hand unter meinen Rock schob. Ich begriff es kaum. Während der Theologe weiter plauderte, kniff und streichelte er meinen Oberschenkel unter dem Tisch.

Ich war wie erstarrt. Was ist das denn? Ist der alte Mann neben mir verwirrt?? Ist das ein Versehen?? Was mache ich denn jetzt?

Ich kann doch nicht hier mitten im gediegenen Restaurant, mit seiner Frau mir gegenüber, auf seine Hand schlagen und "Finger weg" zischen.

Ein alter Mann, der vielleicht nicht mehr richtig weiß, was er tut. Und ich mache einen Skandal? Mit einem der verehrtesten Theologen Deutschlands?
Das kann ich nicht machen. Und das glaubt mir doch kein Mensch.

Ich habe nichts gemacht. Ich habe das Essen hinter mich gebracht und bin angeekelt nach Hause gefahren. So ein Schwein!

Oder hatte ich mich am Ende vielleicht doch geirrt?
Ich habe mit niemandem über diesen Vorfall gesprochen.

Eine Woche danach rief mich sein Bremer Freund an, um noch einmal über den Vortragsabend zu sprechen. Er merkte, dass ich irgendwie zurückhaltend reagierte und fragte nach.
Schließlich sagte ich: "Gut, dann will ich es Dir sagen: Dein Freund ist mir im Restaurant unter dem Tisch an die Wäsche gegangen."

Nun war es raus. Ich rechnete damit, dass er lachen würde oder sagt "Du spinnt doch!" Und was sagt er stattdessen zu meiner Überraschung prompt: "Oh, nein, ist das immer noch so!"

So kannte er ihn seit vielen Jahren. Als Mann, der Frauen am Rande von Wochenend-Seminaren und Veranstaltungen aufdringlich nachsteigt.

Ich habe mir diesen Übergriff nicht eingebildet. Eine lange Reihe von Frauen hatte mit ihm vorher ähnliches erlebt.

Während der übergriffige Kerl durch die Jahrzehnte von Ehrung zu Ehrung wanderte, hat wohl keine Frau jemals gesprochen, um den großen Theologen vom moralischen Sockel zu stoßen.

Er ist längst gestorben, aber ich bin immer noch wütend und angeekelt.

Seine Frau lebt noch. Erst wenn ich mit ihr gesprochen hätte, um sie vorzuwarnen, würde ich seinen Namen öffentlich machen.

"Kein Platz für Gewalt" – Ich bin froh über diese neue Veranstaltungsreihe in der bremischen evangelischen Kirche. Es wird Zeit, dass immer mehr Menschen, in der Kirche und außerhalb, das Schweigen brechen.

Ganz egal, wer ihre Grenzen übertreten hat.

Es ist allerhöchste Zeit für ein Ende der Scham und des Schweigens.

Autor/Autorin

  • Jeannette Querfurth

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