Im Porträt Diese Oldenburger Komponistin will Menschen für Neue Musik begeistern

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Porträt von Sarah Nemtsov
Neue Musik gilt als schwierig, aber das Genre zieht zunehmend jüngere Menschen hat, hat Komponostin Sarah Nemtsov festgestellt. Bild: Camille Blake

Sarah Nemtsov ist eine junge, vielfach ausgezeichnete Komponistin für Neue Musik, ein Genre, das immer mehr Jüngere anzieht.

Sarah Nemtsov ist gerade erst von der Probe gekommen. Jetzt öffnet sie die Tür zur großen Altbauwohnung im Berliner Stadtteil Charlottenburg und bittet ins Wohnzimmer. Auf ihrem Arm der kleine Elias, der die Besucherin neugierig und freundlich anguckt. Elias ist dreieinhalb Monate, die älteren Kinder sind elf und dreizehn. Eine vielbeschäftigte Komponistin mit zwei Schulkindern und einem Baby, wie schafft sie das? "Die Kinder sind meine Erdung. Ich frag mich eher, wie ich’s ohne die Kinder hinkriegen würde."

Wenn ich eine Zeitlang nicht komponieren kann, fühle ich mich immer ein bisschen leer."

Sarah Nemtsov über das Komponieren.

Am liebsten arbeitet sie in der Ruhe und Stille des ganz frühen Morgens. Das Komponieren, erzählt Sarah Nemtsov, sei für sie so etwas wie ein Lebenselixier. "Es ist das, womit ich mich am besten ausdrücken kann und wo ich hoffentlich auch eine Brücke zu anderen Menschen finde. Wenn ich aus irgendwelchen Gründen eine Zeitlang nicht komponieren kann, dann fühle ich mich immer ein bisschen leer."

Jüdische Literatur als Grundlage für Kompositionen

Ihre Werke werden viel gespielt, auch international. Große Werke für Orchester sind dabei, aber auch mal für ein Klaviertrio oder ein Bläserquintett. Erst im Januar wurde "En Face", ein Werk für Orchester, Schlagzeugsolo und Schauspieler, an der Staatsoper Hannover wieder aufgeführt. "Ich bin in der glücklichen Situation, dass viele Werke im Konzertrepertoire sind und nachgespielt werden, was in der Neuen Musik gar nicht selbstverständlich ist. Es gibt leider diesen Hype um die Uraufführungen und viele Komponist:innen leiden darunter, dass sie nur einmal gespielt werden."

"En Face" ist inspiriert von einer Kurzgeschichte des polnisch-jüdischen Dichters Bruno Schulz, der in der Nazizeit ermordet wurde. Viele der Arbeiten von Sarah Nemtsov basieren auf jüdischer Literatur, von Paul Celan, Walter Benjamin, Hilde Domin oder Edmond Jabès. Literatur, die die Komponistin seit langem begleitet.

Sie hat immer für meine Selbstbestimmung gekämpft.

Sarah Nemtsov über ihre Mutter.

Ihre Mutter, die Malerin und Illustratorin Elisabeth Naomi Reuter, war Gründungsmitglied der jüdischen Gemeinde in Oldenburg, von ihr stammt eins der ersten Bilderbücher zur Shoah, "Judith und Lisa".

Ihrer Mutter, die 2017 verstarb, hat Sarah Nemtsov ihr Werk "Fenster – Shloshim" gewidmet. Uraufgeführt wurde es 2018, anlässlich der Verleihung des Kompositionspreises der Stadt Oldenburg. "Ich konnte ihr noch sagen, dass ich diesen Preis bekomme, aber zur Verleihung war sie schon nicht mehr da."

Die Mutter hat sie immer unterstützt und sogar schon vor dem Abitur zum Frühstudium nach Hannover geschickt, obwohl Sarah wegen mehrerer Fehlbildungen im Bauchraum von Geburt an schwer krank war. Zweimal hatten die Ärzte sie fast aufgegeben. Als Kleinkind hatte sie viel Zeit in der Kinderklinik in Bremen verbracht. "Meine Mutter hat da zum Teil Monate mit mir verbracht, hat ihre Sachen mit nach Bremen genommen und dort gezeichnet. Als ich in Oldenburg in die erste Klasse kam, hat sie in einer Besenkammer in der Schule gesessen und gezeichnet, falls mit mir irgendetwas sein sollte. Sie hat immer für meine Selbstbestimmung gekämpft."

Musikalische Ausbildung

Eine wichtige Rolle spielte auch die Vermieterin Ilse Reil, die Sarah Nemtsov Blockflötenunterricht gab und ihre Begabung erkannte. Einen festen Termin gab es nicht, "ich bin da einfach runtergerannt und dann haben wir geübt. Und wir haben gelacht die ganze Zeit, es war überhaupt nie verbissen. Und gleichzeitig hatte sie einen tiefen Ernst für die Musik."

Mit Ilse Reills Barock-Trio trat Sarah Nemtsov schon als Kind bei Konzerten auf, mit acht Jahren nahm sie zum ersten Mal am Wettbewerb "Jugend musiziert" teil. Von 1998 bis 2000 studierte sie Komposition und Oboe in Hannover, ging nach dem Diplom als Meisterschülerin nach Berlin und bestand ihr Examen mit Auszeichnung.

Ein Raum für Kunst und Diskurs

Heute betreibt sie – neben ihrer Arbeit – mit ihrem Mann, dem Pianisten und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov, einen "Raum für Kunst und Diskurs", eine Art Salon für Musik und kulturellen Austausch, in dem auch die Werke ihrer Mutter Elisabeth Naomi Reuter ausgestellt sind.

Oldenburg vermisse sie oft, erzählt Sarah Nemtsov, den Klang des Kopfsteinpflasters in der Adlerstraße, die Stille, die Vögel im Frühling, die Glocken der Kirchen, die sie bis heute auch beim Komponieren inspirieren. Im Sommer, wenn die jüdische Gemeinde ihr 30-jähriges Bestehen feiert, will sie die Stadt mal wieder besuchen, zusammen mit ihrer Familie. Dann wird auch der Jüngste, der kleine Elias, die Heimatstadt seiner Mutter zum ersten Mal sehen.

Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 25. April 2022, 18:05 Uhr

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Gesprächszeit mit Hendrik Plaß

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